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Ausgabe 25/2022
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Aufgewacht |
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| Reiner Schlotthauer |
Manchmal lohnt es sich, gegen den Strich zu bürsten. Besonders wenn das früher Selbstverständliche angeblich neu entdeckt wird. Viele Beispiele ließen sich anführen, doch ein herausragendes ist die Verletzlichkeit des Menschen. In die Schlagzeilen gerät es neuerdings in psychologischen Ratgebern, Magazinsendungen sowie, bewundernswert, in Ausstellungen – ganz ästhetisch, im Museum.
Als ob eine Wiederentdeckung nötig gewesen wäre. Die Verletzlichkeit haftet doch dem Menschen schon immer an, seit er hilflos zur Welt und dann zu Bewusstsein gekommen ist. Daher hat er begonnen, über seine Sterblichkeit nachzudenken und die Religion entdeckt. Wer sich vorstellen kann, was die Menschen sich seither Schreckliches angetan haben, hätte es eigentlich früher wissen müssen. Die Ukraine steht nicht am Anfang. Die Erzählungen der Großeltern sprachen schon Bände. Oder liegt es daran, dass sie für Nachwachsende nur noch in Geschichtsbänden zu lesen sind?
Eigentlich müssten sich die Leute lebhaft vorstellen können, was hinter den Häuserwänden ihrer Stadt vor sich geht – und zu echten Zeitzeugen werden. Sind sie doch weltweit vernetzt: Zeugen dafür, wie viele Menschen an zerbrochenen Beziehungen leiden, an Einsamkeit, Verwahrlosung, Lieblosigkeit schon seit Kindertagen; an Krankheiten, Behinderungen, Altersgebrechen, an seelischer Not und Kriegsangst. Wer sein Ohr spitzt, hört, wie das Gebälk menschlicher Fassaden knirscht. Und jetzt kommt auch noch der Bruch des Wohlstandsversprechens. Viele, verwöhnt wie sie sind, wissen gar nicht mehr, dass nach dem Gipfel auch ein Tal kommen kann. Ein Pilger dagegen schon. [...]
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